Argumentieren trainiert das diskursive Denken
Zitate gelten als Funken der Weisheit. Ein Heer an Gelehrten, Philosophen und Geisteswissenschaftern haben sich schon vor uns Gedanken über Gott und die Welt gemacht. Die Grenze zwischen Sinnsprüchen aus dem Volksmund, Tagebuchpoesie, Affirmationen, und Motto (Plural: Mottos?, Motti?, ganz sicher nicht Motten) oder beruflichen Leitbildern ist fließend. Das Netz ist voll davon und jede zweite Homepage steht unter einem anderen Leitspruch.
Gibt man beispielsweise “Carpe Diem” ein, dann erfährt man: “Genieße den Tag” stammt aus einem Gedicht um 23. vor Christus vom römischen Dichter Horaz. Im Original dieses Lyrikbuches ging der Satz sogar weiter: “Genieße den Tag, und vertraue möglichst wenig auf den folgenden”.
Diese Sentenz wird häufig übersetzt mit “Nutze den Tag” oder “Lebe so, als gäbe es kein Morgen” und schmückt unzählige Power Point Präsentationen oder Firmenhomepages. Echt? Sollen wir das überhaupt? Und zwar gleich alle auf einmal? Lebe heute, bezahle morgen? Diese Form des Egoismus kostet unter anderem CO2-Emissionen und ist vor dem Hintergrund des Klimawandels wenig empfehlenswert. Hat uns genau diese Einstellung in das globale Schlamassel geritten?
Wenn ich jeden einzelnen Tag – kulinarisch betrachtet – so genossen hätte, als wäre es mein letzter, dann wäre ich nicht nur körperlich “überpräsent”, sondern schlicht geplatzt.
Zitate haben den Vorteil, dass sie aus dem Zusammenhang gerissen funktionieren, und Menschen schmücken sich seit jeher gerne mit den Federn anderer. Wer diese “geflügelten Worte” einer gedanklichen Prüfung unterzieht, der wird draufkommen, dass nicht alles inhaltlich glänzt, was klingt. Für Rhetorikfans sind Aphorismen genial, um das diskursive Denken zu trainieren.
Mein Tipp: Finden Sie bei den folgenden Sprüchen je drei Argumente dafür und drei Thesen dagegen samt bildhaftem Beispiel, gesellschaftlichen Auswirkungen und persönlicher Begründung. Das klappt mit schlauen philosophischen Lebensweisheiten ebenso wie mit platten Redensarten aus dem Poesiealbum.
Übung: Diskursives Denken
Leicht:
- „Vergiss nie die Heimat, wo Deine Wiege stand, Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland.
- “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.”
- “Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.” (Hermann Hesse)
Schwieriger:
- “Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten” (J. W. Goethe)
- “Dass so viel Ungezogenheit gut durch die Welt kommt, daran ist die Wohlerzogenheit schuld.”
- “Ein Freund ist ein Mensch, vor dem man laut denken kann.” (Ralph Waldo Emerson)