Wir alle sind, ohne es bemerkt zu haben, der Zeitreligion beigetreten: Das Erste was von einem Neugeborenen aufgeschrieben wird ist die Geburtsstunde.
Die Zeitreligion
Während sich die Welt noch immer über die verschiedenen Glaubensrichtungen streitet merken die wenigsten, dass wir alle längst vereint und gefangen sind in der neuen Religion: der Zeitkirche! – Gemäßigte Christen ebenso, wie Fundamentalisten oder Atheisten. Nur wer sich zwischendurch leere Zeitfenster gönnt und den temporalen Glauben gelegentlich auf die leichte Schulter nimmt, kann sich erholen.
Eine neue Religion erfasst alle: Eroberungsfeldzüge und Markträuberei gibt es immer noch, nur die Geschwindigkeit hat sich bedeutend erhöht. Kolumbus hat für seine erste Entdeckungsreise, die ihn nach Amerika führte, noch ein ganzes Jahr gebraucht und abends ins Logbuch geschrieben, was sich tagsüber ereignete. Heute ist es umgekehrt: Wir schreiben uns die Erfolge und Geschehnisse im Kalender vor. Manche davon dauern nur wenige Minuten – zum Beispiel Abwicklungen an der Börse. Tempo bestimmt im modernen Leben oft über den Erfolg. Schlimmer noch: die Zeit bestimmt über den Menschen.
Wer hat die Zeit erfunden?
War es Galilei? Nein, die ersten systematischen Gedanken über die Zeit sind uns wieder einmal von Platon (427-347 vor Christus) überliefert. „Ihre Existenz ist nur an die Gegenwart gebunden, Vergangenheit existiert nicht mehr, das Zukünftige gibt es noch nicht. Das Jetzt ist unteilbar.“
Untersucht man die Begriffe „Religion“ und „Zeit“ findet man viele Definitionsparallelen: Als Religion (von lat. religere = rückbinden) bezeichnet man eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene, die menschliches Verhalten, Denkweisen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen. Gekennzeichnet ist jede Glaubensrichtungen von Symbolen, Zeichen und Icons. Für die Folgenden gibt es diese längst:
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Geburtsurkunde
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Wecker, Uhr
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Radix
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Kalenderblatt
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Stundenplan, Fahrplan
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Stechkarte
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Grabsteine
Wir alle sind, ohne es bemerkt zu haben, der Zeitreligion beigetreten: Das Erste was von einem Neugeborenen aufgeschrieben wird ist die Geburtsstunde. Das Letzte was von uns übrig bleibt, sind Zeitdaten auf einem Grabstein: von- bis. Dazwischen leben wir nach Stundenplänen, Timern, … wir richten uns nach Flugzeiten und den im Kalender eingetragenen Urlaubstagen. Schlimm wird es, wenn wir „zeitreligiöse“ Feiertage vergessen, beispielsweise den Geburtstag oder Hochzeitstag.
Viele Jahrtausende hat ein Leichnam die Gesellschaft regiert (Buddah, Jesus/Gott, Allah, Jahwe, …) – heute ist es die ZEIT. Wir alle sind infiltriert von dieser neuen (alten) Form des unscheinbaren Glaubens in den wir bereits hinein geboren wurden. Wem der Begriff „Religion“ im Zusammenhang mit „Zeit“ nicht gefällt, der ersetze ihn durch das Wort: „Sekte“. Überprüfen Sie, wie gut die Erkennungsmerkmale einer Sekte auf die Zeitkirche passen:
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Absolutheitsanspruch (gegenüber andern Christen oder Gemeinden)
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Autoritäre Führungsstrukturen: fördern und fordern die Abhängigkeit
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Scharfe Kontrolle des Privatlebens und ausgeprägte Normierung des Lebens der Mitglieder.
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Aggressive Missionsmethoden, die vorwiegend der Gewinnung neuer Mitglieder dienen, überall in der Welt gibt es Uhren.
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Geld spielt eine Rolle: „Zeit ist Geld“!
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Jeder muss die Uhr kennen um einer Arbeit nachzugehen, reisen zu können, Buchungen in Restaurant vorzunehmen.
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Geburtsurkunde, Stundenpläne, Timer, Kalender, Pläne im öffentlichen Verkehr – unser Leben ist klar reglementiert
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Kinder bekommen schon früh einen Wecker und zur Firmung Uhren geschenkt. In jedem Handy gibt es Zeiterfassungen. In vielen Berufen wird nach Stunden bezahlt.
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Man ist nicht mehr Herr über sein Handeln, der Rhythmus ist nicht durch unserer „innere Uhr“ bestimmt, sondern extern getaktet.
Natürlich sind andererseits vordergründig viele Vorteile damit verbunden, wenn wir Zeit messen und einteilen können. Je behutsamer und geplanter wir mit unseren täglichen 24 Stunden umgehen, umso mehr können wir leisten. Es ist außerdem einfacher, Menschen verabredet zu treffen, als irgendwann in der Dämmerung. Geschäfte nach dem Sonnenstand abzuwickeln ist ebenso wenig empfehlenswert. Schlicht: unser Leben ist besser strukturiert und wir leben lieber kontrolliert.
Lüften durch Zeitfenster
Selbst wenn wir in Zeitmanagement-Seminaren unseren Zeitkillern auf die Schliche kommen und uns zwischendurch bemühen Freizeit oder Essenszeit unverplant zu genießen, gibt es aus dieser Religion keine Ausstiegsmöglichkeit. Da gibt auch die Entschleunigungs-Gemeinde wenig Hoffnung! Jeder Versuch den Faktor Zeit zu dominieren, wird langfristig zwangsweise scheitern. Es wäre fast so, als würde man versuchen den Tod umgehen zu wollen. – Ironischer Weise führen Bestrebungen dieser Art nur dazu, dass wir heute noch zeiterfassbarer sterben. Schließlich wusste bei den tausenden Pestopfern niemand den genauen Todeszeitpunkt. – Auch bei historischen Promis, wie Mozart beispielsweise, rätseln die Experten bis heute. Diese Fälle sind im technologischen Zeitalter selten geworden. Der Todeszeitpunkt kann heute schon sehr exakt bestimmt werden – nur ist es dann mit Sicherheit zu spät.
Die Zeit Light-Methode
Egal, wie ernsthaft Sie es versuchen, aus der Zeitkirche kommen Sie nicht mehr raus. Auch wenn Sie sich drei Wochen Urlaub nehmen, nichts planen und sich nur treiben lassen, so hat der Urlaub doch ein dezidiertes Ende – laut Kalender.
Die einzige Chance die vorgegebene Zeitrhythmik zu durchbrechen ist – ebenfalls ganz vorsätzlich – Zeitfenster zu kalkulieren. Führungskräfte beispielsweise bitten Ihre Assistentinnen Ihnen jede Woche ein unverschiebbares Zeitfenster von mindestens 3 Stunden einzuteilen. Sie gehen in dieser Zeit natürlich ebenso Ihrer Arbeit nach, aber eben eins nach dem anderen – und vor allem in ihrem eigenen Tempo. Wie wohltuend! Das können wir auch, als die Sekretärin des eigenen Lebenskalenders.
Fazit: Immer wenn es kein Entrinnen gibt, bewährt sich die Methode: „Light“. Nachdem wir um Softdrinks, Zigaretten, die Pille, … heute nicht mehr herum kommen, beschwichtigen wir und bringen die Light-Industrie zum boomen. Die Simple Living – Experten bieten hier interessante Möglichkeiten an, die eigene temporale Syntax zu durchbrechen:
Ein Beispiel: Eine Woche ohne Einkaufen!
Dieses Experiment erfordert ein wenig Vorbereitung: Kaufen Sie die Lebensmittel usw. ein, die Sie (und Ihre Familie) voraussichtlich für genau eine Woche benötigen. Tanken Sie Ihr Fahrzeug ein letztes Mal auf. Bis auf die notwendigsten Frischeartikel sollten Sie vollkommen auf das Einkaufen (auch Internet/Telefon!) verzichten, in Ihrem Kühlschrank lässt sich für eine Woche einiges lagern. Sollten Sie während der Woche bemerken, dass Sie etwas vergessen haben, schreiben Sie diesen Artikel auf – aber kaufen Sie ihn nicht! Versuchen Sie vielmehr, dieses Produkt durch andere Alternativen zu ersetzen. So, jetzt freuen Sie sich auf:
- viel mehr Zeit durch das Entfallen des Einkaufes
- gespartes Geld, weil auch Impulskäufe keine Chance haben
- neues Selbstbewusstsein, weil Sie Wichtiges von Notwendigem unterscheiden