Der Mittelweg führt auf den Holzweg

22. Juni 2020 von Tatjana Lackner, MBA

Wohlfühlrhetoriker: Fanatiker des Mittelweges

Tag und Nacht. Schwarz und weiß. Heiß und kalt. Dead or alive. Wir leben im Dualitätsprinzip und sogar geografisch zwischen zwei Polen. Rhetorisch betrachtet gibt es zudem bedeutend mehr verbale Harmonizer als Polarisierer. Viele sind Fanatiker des Mittelweges und felsenfest davon überzeugt, dass der Kompromiss die gerechteste Lösung für alle hervorbringt. Sie finden, wenn der eine nicht genau das bekommt, was er wollte und auch der andere sein Ziel nicht erreicht, dann sei das fade Agreement in der Mitte fair. Manche Menschen fühlen sich wohler, wenn sie es im Leben lau haben anstatt kalt oder warm.

Dauernd schwarz oder weiß zu sehen, ist bestimmt wenig bunt. Dafür erscheinen die Kontrastkanten zwischen den gegensätzlichen Sichtweisen umso klarer. Manchmal ist es deshalb notwendig, diesen schmalen Grad zwischen der Argumentationsgrenze von A und B genau zu untersuchen. Erst, wenn wir den Linienbruch zwischen beiden Sichtweisen erkennen werden die inhaltlichen Divergenzen klar. Egal, ob es sich da um „Berufsheer versus Wehrpflicht“ handelt oder darum, wem wir in der leidigen „Palästinenser-Israeli-Frage“ recht geben.

Für Wohlfühlrhetoriker sind „absolute Standpunkte“ jedoch nur schwer zu ertragen. Für manche Franzosen übrigens auch. Wer bis zur Matura Französisch hatte, weiß, wovon ich spreche. Ein gutes französisches Essay musste damals wie heute stets diesen Aufbau haben:

  • drei Argumente FÜR eine These

  • drei Gründe FÜR die Antithese

  • und auch die Synthese wollte die Frau Französischlehrerin in drei Punkten begründet.

Was jedoch, wenn es gar keine Pro-Argumente zu einer Thematik gibt? Ein Glas kann schließlich nicht nur „halb voll“ oder „halb leer“ sein. Nein, es kann auch „ganz leer“ sein. Was dann?

Fazit: Im „Lau“ lässt sich schlecht nach Meinungen fischen und auch das Argumentieren lernt man in der rhetorischen Komfortzone nicht. Wer das Glück hat immer noch Schwarz und Weiß zu erkennen, wird nicht vom Grau der Masse vernebelt.

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